Häh?! Bitte, was?
Vielleicht hast du schon mal etwas vom „Systemischen Coaching“ gehört? Aber was bitte soll das denn nun mit Vocal Coaching zu tun haben?

Was bedeutet „systemisches Coaching“ überhaupt?
Erst einmal hat es nichts mit Systematik zu tun, also z.B. einer strikten Aufeinanderfolge oder Einteilung von bestimmten Dingen oder planmäßigen Handlungsabläufen. Weit gefehlt.
Im systemischen Coaching geht man vielmehr davon aus, dass jeder einzelne Mensch seine ganz eigene höchst individuelle, subjektive Wirklichkeit vertritt und dabei immer auch sozial vernetzt ist. Diese sozialen Systeme können z.B. Paarbeziehungen, Familien, Gruppen, Organisationen usw. sein.
"Systemisch" bedeutet also vielmehr: "Das ganze System betreffend"
Die ganz individuellen Veränderungs- und Entwicklungsprozesse beeinflussen demnach auch immer die sozialen Systeme, in denen sich ein Mensch befindet. Das Ziel eines Coachings sollte also sein, die Wirklichkeitskonstruktion sowie das Verhalten eines Einzelnen zu verändern, um so neue und positive Erfahrungen machen zu können. Ziele können nur nachhaltig wirksam sein, wenn sie sich in den sozialen Systemen umsetzen lassen.
Was versteht man unter einer „systemischen Haltung“?
Eine ganz wesentliche Rolle spielt hierbei die Haltung des Coaches. Ein Coaching sollte immer eine Begegnung von zwei Menschen auf Augenhöhe sein, die auf Vertrauen basiert.
Die Grundhaltungen des Coaches sollten immer sein: Offenheit, innere Flexibilität, Empathie und Allparteilichkeit. Die Basis dieser Haltung besteht aus Respekt, Wertschätzung, Verschwiegenheit, Verantwortung und Neutralität.
Die Haltung und die Prinzipien des Coaches sind ein wichtiger Faktor, damit der Coachee seine Ziele überhaupt erreichen kann.
Das heißt: Der Coachee steht immer im Fokus.
Der Coach lässt dabei aber auch die Probleme immer beim Coachee. Er gibt zwar Anstöße zur Problemlösung - der Coachee trägt die Verantwortung dafür aber immer selbst. Der Coach ist somit für den Coaching Prozess verantwortlich, nicht für die eigentliche Problemlösung.
Dadurch ergibt sich im Umkehrschluss auch, dass der Erfolg immer dem Coachee gebührt, denn er hat selbst und eigenverantwortlich maßgeblich zur Lösung seines Problems beigetragen.
Die systemische Haltung (Zusammenfassung)
- Wertschätzende Haltung gegenüber dem Klienten, sowie seinen Problemen und seiner
Situation
- Haltung des Nicht-Wissens
- Neugier
- Neutralität
- Allparteilichkeit
- Aktives Zuhören (angemessene Fragen stellen, spiegeln)
- Ressourcenorientierung
- Lösungsorientierung
- Klientenorientierung: die eigene Meinung zurückhalten und Ratschläge vermeiden
- Kreative (konstruktive, lösungsorientierte) Fragen stellen
- Positive Handlungsmotivation
- Potentialhypothese

Wie kann man dies nun auf das Vocal Coaching übertragen?
Vorüberlegung: was könnten grundsätzlich soziale Systeme sein, in die die Lebensrealität deines Coachee eingebunden ist und auf die dein Coaching Einfluss nehmen könnte?
Mir fallen hier spontan ein paar ganz konkrete Situationen ein wie z.B.: die Sängerin, die plötzlich einen großen stimmlichen Sprung macht und ihrer Band damit zu noch mehr und besser bezahlten Auftritten verhilft. Oder der Coachee, der selber Coach für Führungskräfte ist und nun dank deines Stimmtrainings keine heisere Stimme mehr hat, was ihm zu mehr Selbstbewusstsein, Stimmgesundheit, Gehör und mehr bezahlten Aufträgen im Berufsalltag verhilft. Oder der Sänger, der fast seine professionell geplante Tour mit der Band absagen musste und sie jetzt doch spielen kann, weil er mit dir zusammen an seiner Gesangstechnik gefeilt hat und die Stimme jetzt belastbarer ist. Oder die Hobbysängerin, für die ihre Gesangsstunden einfach eine gute Mee-Time bedeuten, eine Wellness-Auszeit im stressigen Alltag, ein Auftanken und Entspannen - obwohl ihr Mann immer noch meint, dass sie nicht schön singen kann.
Alles reale Situationen, die verdeutlichen sollen, dass du mit deinem Coaching nicht nur deinen Coachee beeinflusst, sondern immer auch die Systeme, in denen er sich befindet.
Die systemische Haltung im Vocal Coaching
Ich möchte mir aus den oben genannten Prinzipien nun einige auswählen, um zu verdeutlichen, was ein „systemisches Vocal Coaching“ meiner Meinung nach ausmacht und welche Vorteile es für dich und für deinen Coachee hat.

Haltung des Nicht-Wissens gepaart mit Neugierde
Damit ist gemeint, dass ich als Coach erst mal keine Ahnung über die Wirklichkeitswelt meines Coachees habe. Was denkt er? Was fühlt er? Welche Glaubenssätze wirken in ihm?
Wer aus seinem System findet es z.B. „Total überflüssig, Gesangsunterricht zu nehmen“? Wer meint: „deine Stimme ist scheiße“ oder „du bist nicht gut genug“ oder „du schaffst es eh nicht, deine Ziele zu erreichen“ – und hat damit Samenkörner für ungute Glaubensmuster gesät, die oftmals auf den ersten Blick noch gar nicht ersichtlich sind?
Wir neigen gerne dazu, uns allzu schnell ein Bild von unserem Gegenüber machen zu wollen. Das ist zutiefst menschlich – schließlich war es in einer sehr frühen Zeit wichtig, zu wissen und in Sekundenschnelle einschätzen zu können, ob uns ein Freund oder ein Feind gegenübersteht.
Aber hier ist es hilfreich, sich keine allzu schnelle Meinung zu bilden, sondern erst einmal neugierig zu bleiben und viel zu fragen, um mehr über unser Gegenüber und seine Gedanken zur eigenen Stimmwelt rauszufinden. Um ihn wirklich in seiner eigenen realen Wirklichkeit wahrnehmen zu können.
Warum ist dieser Mensch hier? Was sind seine Ziele? Was sind seine Wünsche? Wovon träumt er? Was für Erfahrungen sind bis hierher gemacht worden? Was denkt er über seine Stimme? Was möchte er lernen? Was sind Stimmen aus seinen Systemen? Was sagen diese? Welche Stimmen trägt er selbst in sich? Usw.
Das Credo lautet also immer: beobachten und fragen - nicht bewerten.
Oder was für mich fast noch schlimmer ist: bereits einen konkreten Plan im Hinterkopf haben und der Meinung sein, man wisse schon ganz genau, was der Coachee braucht und was nicht.
Stichwort: Vorgegebene Wege, ausgetrampelte Pfade.

Ressourcen- und Lösungsorientierung
Wir als Coaches mit unserem jahre- oder sogar jahrzehntelang erworbenem Wissen und unserem reichhaltigen Erfahrungsschatz denken gerne, dass wir die Lösung für jedes Stimmproblem unseres neuen Coachees bereits in der Tasche haben und es nur noch aus dem Hut zaubern müssen. Tadaaaaaa, bitteschön: die Lösung! Und jetzt bitte nur noch nach unseren Wünschen umsetzen.
Aber ganz so einfach ist es nicht.
Einfach unser gesammeltes Wissen über dem Coachee auszuschütten hilft nur in den wenigsten Fällen. Nachhaltiges Lernen gelingt immer noch am besten, wenn es selbstwirksam geschieht.
Was bedeutet dies nun für deinen Gesangsunterricht? Sollst du nicht mehr sagen und erklären dürfen, was du weißt?
Wenn es der Coachee verlangt, auf jeden Fall! Je nach Lernkurve oder Vorerfahrungen kann es absolut richtig und wichtig sein, erstmal in die Theorie einzusteigen, Dinge zu erklären und zu benennen - und darauf die Praxis aufzubauen.
In den anderen Fällen wäre es vielleicht nachhaltiger für den Coachee, wenn man ihm einfach mal unvoreingenommen einen sicheren Raum aufmacht, in dem Fehler passieren dürfen. In dem einfach mal ausprobiert werden darf und Übungen vielleicht nicht auf Anhieb korrekt und perfekt durchgeführt werden, damit ein wirklich individueller Lernprozess ausgelöst wird.
Auch hier könnte das neue Credo wieder sein: beobachten, ohne zu bewerten.
Und ganz wichtig: nachfragen!
Fragen, fragen, fragen!
„Wie hat sich das für dich angefühlt?“
„Wo hast du etwas gespürt?“
„Was war jetzt anders als beim Versuch vorher?“
„Wie stellst du dir das in deiner eigenen Vorstellung vor?“
„Wie passt das zu dem, was du bisher darüber gelernt oder geglaubt hast?“
"Was davon kanntest du schon?"
„Was war neu?"
"Was war überraschend?"
"Wie leicht ist es dir gefallen...? Auf einer Skala von 1 bis 10? …“
usw. usw. usw.
Werde kreativ in deinen Fragen, bleibe neugierig, sei ein Entdecker für die Lebenswelt deines Gegenübers.
Aber vor allem: stelle dir immer wieder vor, dass die Ressourcen, die es braucht, um etwas gut meistern zu können, bereits in deinem Coachee liegen. Du hilfst nur, sie zu entdecken und ans Licht zu bringen. Das ist mit Potentialhypothese gemeint: Wir dürfen gerne davon ausgehen, dass der Coachee bereits alles in sich trägt, was es braucht, um seine Ziele zu erreichen und nachhaltig zu festigen.
Du als Coach gibst nur den Prozess vor, in dem dein Coachee alles entdecken kann. Damit schenkst du ihm einen große Portion Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung, was sich beides positiv auf seine ganze Selbstsicht und natürlich den gesamten Lernprozess (und somit auf euren gemeinsamen kompletten Coachingprozess) auswirken kann.
Schenke deinem Coachee die Freiheit und die Neugier, selbst zum Entdecker für seine eigene Stimme zu werden. Hilf ihm dabei, seinen eigenen Weg durch seine individuelle Stimmwelt zu finden.
Liebe Grüße und viel Spaß beim Ausprobieren,
Michaela
Quelle: Seminar Life Coaching, ALH Akademie, Köln (Studienunterlagen)
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